Sklaven der Reize

     


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Wir geben Gas: Immer mehr Menschen konsumieren Medien in erhöhtem Abspieltempo – seien es Podcasts, Serien oder Musik. Die meisten von uns entscheiden sich für das oberflächliche Konsumieren: Sie versuchen in möglichst wenig Zeit möglichst viel aufzunehmen. Die erhöhten Tempi helfen dabei. Die Rechnung scheint einfach: Wer Video- oder Audioformate schneller konsumiert, hat mehr Zeit. Genau diese ist unter Druck in einem ganz generell beschleunigten Alltag mit endlosen Möglichkeiten. Doch geht die Rechnung wirklich langfristig auf, wenn wir Texte querlesen, Videos querschauen und Audio querhören? Wer mehr konsumiert, gibt dem Gehirn keine Zeit mehr, die Inhalte zu verdauen und einzuordnen. Die erhöhten Geschwindigkeiten erlauben, dass wir immer schneller von einem Input zum nächsten jagen können – hier einen Song reinhören, da ein kurzer Clip und noch einer, dann weiter zur Sprachnachricht. Wir werden so zusehends zu Sklaven der Reize.

    Die Folge: Wir bleiben immer häufiger an der Oberfläche. Wir lesen Texte nicht mehr tief, wir hören Musik in Bruchstücken, wir werden allgemein ungeduldig. Und wir verlieren, uns auf etwas zu konzentrieren und anderes auszublenden, obwohl es interessant ist. Wir verlernen Selbstdisziplin. Diese Sprunghaftigkeit hat Folgen im Umgang mit anderen Menschen. Viele sind hypererregbar. Indem wir unseren Gehirnen in kürzeren Abständen neue Reize angewöhnen, drohen wir die Fähigkeit zu verlieren, anderen konzentriert zu zuhören und uns in sie hineinzuversetzen. Dass die Beschleunigung Vorzüge hat, aber nicht nur guttut, spüren wir Menschen. Das Bedürfnis nach Ruhe und Abgrenzung neben dem digitalen Grundrauschen ist gross. Hand aufs Herz, geht es Ihnen – liebe Leserin und Leser – nicht auch so?

    Ich spüre diesen sogenannten «Mehrfach-Speed» extrem. Und es tut mir gar nicht gut. Als sehr sensibler Mensch, der gerne alles möglichst sorgfältig angeht, tue ich mich sehr schwer mit der hohen Geschwindigkeit dieser Welt. Mein Bauchgefühl, meine Seele und mein Körper rebellieren regelmässig deswegen. Ich benötigte einige Zeit, um zu realisieren, was im Argen liegt. Deshalb habe ich die Notbremse gezogen: Denn meine Fähigkeit, mich vertieft mit Inhalten und Menschen zu befassen, ist mir sehr wichtig und macht unter anderen mein Wesen aus. Deshalb schwimme ich einmal mehr gegen den Strom.

    Konkret bedeutet dies, ich versuche meinen Alltag und besonders meine Freizeit möglichst ruhig und gelassen anzugehen. Dabei geben mein Bauchgefühl und mein Körper das Tempo vor. Ich nehme mir bewusst Zeit für die schönen Dinge des Lebens, für die Menschen, die mir am Herzen liegen. Innehalten, zuhören, wirken lassen. Ich konsumiere bewusst, teile die Zeit ein und verzichte bewusst auch. Ich gebe meiner Agenda vor allem am Abend viel Raum. Achtsamkeit hat einen hohen Stellenwert in meinem Leben bekommen. So habe ich begonnen, sobald ich nach Hause komme, meine auf mich abgestimmten Ohrstöpsel zu tragen – notabene auch über Nacht. So habe ich mehrmals in der Woche mindestens 12 Stunden am Stück Ruhe – keine Reize, keine Hektik. Ich bewege mich dann automatisch langsamer, agiere gemächlicher und konzentriere mich auf mich. Ich werde quasi gezwungen, mich mit mir selbst abzugeben, auf meine innere Stimme zu hören, mit ihr zu kommunizieren und zu harmonieren. Ausprobieren – es ist himmlisch und ich möchte es nicht mehr missen! Ebenso gibt es Zeiten, da lege ich das iPhone weg – besonders, wenn ich im Gespräch mit Menschen bin. Nachrichten, Mails, Messages, soziale Medien – das kann alles warten. Es gibt nämlich nichts wichtiger als mein Seelenfrieden und den finde ich nur in der Ruhe und in der Stille.

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

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